Im Jahr 1945 schrieb der vietnamesische Dichter Ngô Xuân Diệu diese Worte im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung Gửi hương cho gió (Die Wolke bleibt nicht stehen):


Ich bin ein junger Vogel von einem seltsamen Berg,
singe und spiele mit meinem juckenden Hals.
Wenn der Morgenwind durch die Blätter weht,
Wenn der späte Mond aufgeht, brüte ich über dem blauen Himmel.
Auf einem Ast sitzend, sehnt sich der Vogel nach seinem Bach
Er wird plötzlich singen, ohne zu wissen warum.
Seine wogenden Melodien können die Früchte nicht reif werden lassen;
Seine Lieder können den Blumen nicht beim Blühen helfen.
Vom Gesang kann nichts gewonnen werden, und doch
wird der Vogel seine Kehle und sein Herz sprengen, um so schön zu singen, wie er nur kann.


Xuân Diệus Leben war ein Mythos, der uns dazu anhält, es durch mittels seiner Gedichte und Geschichten zusammenzusetzen. Seine Werke drücken auf berührende Weise eine tiefe Sehnsucht nach gleichgeschlechtlicher Intimität und geschlechtlicher Nonkonformität vor dem Hintergrund einer sich verändernden Geschichte aus. Der Vogel singt von einer Liebe, die zum Scheitern verurteilt ist, die als illegitim, inakzeptabel und unmöglich gilt. Sein Lied wurde zu seiner Zeit vielleicht übersehen. Heute aber hallt es bei einer neuen Generation junger queerer Künstler*innen in ganz Südostasien und in der Diaspora nach. Diese Resonanz stellt keine direkte Verbindung her, sondern ruft eine emotionale Resonanz mit vergangenen queeren Erfahrungen hervor. Sie prägt das Bestreben, Herrschaftsstrukturen in der Gegenwart aufzubrechen und sich andere Möglichkeiten für die Zukunft vorzustellen.

Ausgehend von Xuân Diệus Lebenswerk erforscht die Ausstellung “Young Birds from Strange Mountains“ die Überschneidungen und Unterschiede zwischen Gender und Sexualität innerhalb der komplexen geopolitischen Historizitäten Südostasiens. Historizitäten, die durch diasporische Vorstellungen und Spannungen weiter geformt und verzerrt werden. Die Ausstellung geht über orientalistische Betrachtungsweisen und exotisierende Tropen hinaus und lädt südostasiatische Kunst- und Kulturschaffende aus verschiedenen Teilen der Welt ein, die Frage neu zu stellen: Was bedeutet es für uns, wenn wir uns im südostasiatischen Kontext, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - oder durch kulturspezifische Begriffe wie Kwir, Kathoey, oder Bakla - als queer identifizieren?

Es gibt nicht die eine Antwort, so viel ist klar. Während die Young Birds vom seltsamen Berg hinabsteigen, entfalten sich ihre verwobenen Reisewege entlang mehrerer Kapitel der Ausstellung. Im Herzen der Ausstellung liegen die Community-Archive, die mit gelebten Erfahrungen, Geschichten und Perspektiven von queeren südostasiatischen und Diaspora-Communities pulsieren. Diese Archive dienen als Grundlage für das künstlerische Repertoire der Young Birds. Sie können in vier Hauptthemen kategorisiert werden: Verkörperte Versprechen, spirituelle Wege, Wissen der Vorfahren und tropische Technologien.

Die Young Birds stellen Narrative auf, die sich mit umstrittenen Erinnerungen und spirituellen Verbindungen auseinandersetzen und überschreiten damit konventionelle Grenzen. Sie/wir fordern traditionelle, heteronormative und cis-normative Perspektiven des Nationalstaats und des eurozentrischen Denkens heraus, indem sie/wir lokale und vorkoloniale Mythen wieder aufgreifen, mündliche Überlieferungen zum Erzählen von Geschichten nutzen und Archive neu interpretieren. Dabei tauchen sie/wir in die chaotischen Realitäten des Seins und der Beziehungen ein, die durch Migrationsbiografien, dekoloniale Politik und sich ständig verändernde Traumata und Wünsche nach (Nicht-)Zugehörigkeit erschwert sind. Sie/wir sind queer im Hier und im Jetzt, im Dort und im Damals, sowie im Anderswo und in dem, was noch kommen wird.

Die Young Birds lädt Sie ein, liebe Besucher*innen, sich auf die dynamischen Wege der Queerness in Südostasien und ihrer Diaspora zu begeben. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, dies zu tun - außer mit voller Hingabe, mit allen Sinnen und dem gesamten Wesen.

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